Ein Wiedersehen in Vietnam – anders, aber nicht mehr fremd

Nach einem Jahr wieder einmal in Ho-Chi-Minh-Stadt gelandet, werden schon beim Verlassen des Flugzeuges vertraute Gefühle geweckt. Vietnam sieht zwar anders aus als Deutschland, es hört und fühlt sich anders an und tatsächlich, es ist auch anders. Anders aber nicht mehr fremd.

Im Laufe unserer Reise besuchen wir Orte, die wir schon kennen – Plantagen, Paläste und Pagoden, den Mekong und das Meer, die wuseligen Straßen der Städte. Wir treffen Ärzte und Schwestern, mit denen wir bereits eine ganze Weile zusammenarbeiten. Wir erleben die gleiche Not wie bisher – in den Dörfern, den Kinderheimen und den Krankenhäusern, und wir genießen die gleiche Gastfreundschaft, die Dankbarkeit und die Nähe zu vielen Menschen in dieser anderen Welt.

Für alle, die unser Projekt nicht kennen, muss gesagt werden, dass in Vietnam immer noch erschreckend viele Kinder mit Behinderungen geboren werden und dass dafür ein Gift verantwortlich ist, das vor vierzig Jahren im Krieg als Entlaubungsmittel eingesetzt wurde, damit die Kämpfer am Boden besser zu sehen waren. Agent Orange nannte man es damals – in Deutschland produziert und von amerikanischen Soldaten versprüht.

Eine große Zahl der Behinderungen sind schwerwiegende Herzfehler, die jedoch mit einer Operation behoben werden können. Ein solcher Eingriff kostet in Vietnam zwischen 1000 und 5000 Euro. Nun muss man aber wissen, dass es dort für bedürftige Menschen keine Krankenkasse gibt und auch keine Rente, dass Kinder sozusagen eine Lebensversicherung für das Alter sind.

Ein Fischer, ein Reisbauer, eine Marktfrau oder eine Straßenhändlerin verdienen zwischen 40 und 100 Euro im Monat und davon werden oft auch noch die Großeltern ernährt. Ohne Unterstützung einer Organisation aus dem Ausland ist die Bezahlung einer Operation also oft nicht möglich. Mit Freude und auch ein wenig Stolz können wir darauf hinweisen, dass durch großartige Spenden an die Friedenskinder bisher bereits mehr als 600 Kinder operiert werden konnten.

Nun aber zu den Erlebnissen und Begegnungen unserer diesjährigen Reise. Wir folgen den Spuren einiger Familien, die wir in den letzten Jahren unterstützen konnten, und wir besuchen Kinder, die in unserem Patenprogramm aufgenommen wurden, um ihnen nachhaltig zu helfen.

So treffen wir zum Beispiel auf drei junge Leute aus Binh Dinh. Vor siebzehn Jahren verloren sie ihre Mutter durch ein Krebsleiden, vor sieben Jahren ihren Vater. Damals war Nghia, der große Bruder, gerade sechzehn Jahre alt und so schwach, dass er dringend Hilfe benötigte. Er überstand die Herzoperation gut und konnte sich nun um den jüngsten Bruder kümmern, der seit seiner Geburt stark körperbehindert ist und rund um die Uhr betreut werden muss. Also verdiente die jüngere Schwester das Geld in einer Näherei – zehn Stunden Arbeit am Tag, sechs Tage in der Woche. Ihr Lohn reicht auch heute noch gerade für drei Personen aus.

Das, was sie als Küche benutzen, ist eine Wasser- und Kochstelle an der Außenwand des Hauses, abgedeckt mit einer blauen Plastikplane. Die drei Geschwister wohnen zusammen in einem kleinen Raum, der nicht einmal ein Fenster, sondern nur Gitterstäbe vor dem Loch zum Himmel hat. Wie gefangen, aber auch selbstverständlich dem Schicksal ergeben, erzählt uns die junge Frau, dass sie so gerne selbst einmal eine Familie gegründet hätte, dass sie aber um ihre Verantwortung weiß.

Wir versprechen eine Nähmaschine zu besorgen, damit auch der große Bruder mithelfen kann. Jeweils eine Jacke, die wir zuhause in Grundschulen einsammeln durften, werden mit Dankbarkeit angenommen. Aber noch größer ist die Freude über die mitgebrachten Kuscheltiere. Aus unserem Koffer finden drei ein neues Zuhause. Sie werden es gut haben, denn Essen brauchen sie nicht.

Wir besuchen auch Thai Bao aus einem besonders armen Stadtteil von Hue, deren Operation wir vor zwei Jahren bezahlen konnten. Der Vater holt uns mit seinem Moped an der Hauptstraße ab und zeigt uns den Weg zum Haus. Auch dieses besteht nur aus einem einzigen Raum. Wir dürfen uns alles ansehen und nehmen zu Tee und Keksen auf den winzigen Plastikstühlchen Platz.

Thai Bao ist mittlerweile sieben Jahre alt und kann nun auch zur Schule gehen. Mathe mag sie nicht so gerne, aber Sport – und das wäre vor dem Eingriff nicht möglich gewesen. Wie schon im letzten Jahr  ist sie noch scheu, aber man sieht ihr an, wie sie sich durch den Schulbesuch verändert hat. Sie spielt mit Freundinnen und lacht herüber zu uns. Ja, auch die anderen Mädchen dürfen sich ein Kuscheltier aussuchen. Das erste in ihrem Leben!

Das Monatseinkommen des Vaters beträgt etwa vierzig Euro und wird durch eine Patenschaft aus Koblenz um die Hälfte erhöht. Schulsachen werden davon bezahlt und auch das Essen kann mit ein wenig mehr Abwechslung gestaltet werden.

Der Vater trägt noch dieselbe rote Jacke, die er vor einem Jahr von uns bekommen hatte. Sie gehörte einmal einem großen Viertklässler aus Andernach und passte hier keinem Kind. Bei der Arbeit mit dem Mopedtaxi wärmt sie immer noch, vor allem in den Abendstunden. Die Dankbarkeit kennt keine Grenzen und keine Entfernungen.

Ähnliche Eindrücke dürfen wir in Kim Doi erleben, wo auch das Waisenhaus und die Vorschule liegen, die wir schon lange unterstützen. Schwester Tram weist uns den Weg zu Frau Than Huong, die mit ihren beiden Töchtern schon immer hier wohnt. Früher hatte sie einmal ein kleines Geschäft am Straßenrand, aber als ihr Mann vor einigen Jahren tödlich verunglückte, musste ausschließlich sie  für die beiden Mädchen da sein.

Die kleine Familie lebt vom Garten und den Zuwendungen der Nachbarn. Wie sollte es auch sonst gehen, denn durch die Folgen einer Kinderlähmung wird die Behinderung beider Mädchen nach und nach immer stärker. Hoai Nam liegt den ganzen Tag auf ihrer Bambusmatte und kann sich nur noch unkoordiniert bewegen. Keine Therapie, keine Hoffnung auf Besserung. Die etwas jüngere Hoai Nhi kann nicht mehr gehen, aber sie hat wenigstens noch Spaß an kleinen Bastelarbeiten.

Die Nächte verbringen die drei auf einem alten Bettgestell, das an allen Seiten durch kleine Brettchen zusammengehalten wird. Der größte Wunsch der Mutter ist eine bequemere Schlafgelegenheit und damit meint sie nicht etwa Matratzen. Da werden wir sicher helfen können. Erstmal lösen wir aber auch hier Begeisterung mit unseren Kuscheltieren aus. Welch ein Lachen, welch ein Glück!

Nicht weit entfernt wohnt Familie Mang. Der Vater hatte ebenfalls einen Unfall und liegt tagein tagaus auf dem hart gefliesten Boden im Haus. Die Mutter kann ihn nicht einmal eine halbe Stunde allein lassen. Sie muss und möchte ihn versorgen. Sie wird unseren Reisebericht niemals lesen können, deshalb darf ich es hier schreiben: Sie sieht zwanzig Jahre älter aus, als sie wirklich ist, und auch in den Gesichtern der beiden Mädchen hat das Schicksal Spuren hinterlassen. Zum Glück helfen auch hier die Nachbarn mit dem Nötigsten, aber das Geld für die Schule kann Frau Mang nicht immer aufbringen. Wir werden die Mädchen in unser Patenprogramm aufnehmen, damit ihnen ein wenig Schwere aus ihrem Leben genommen wird. Natürlich kommen wieder unsere Jacken und die Kuscheltiere zum Einsatz. Ein herzliches Lächeln wird uns geschenkt.

Mehr als 500 aufgeregte Gesichter blicken uns in Nam Dong entgegen, als wir dort mit einem Kleinlaster auf den Hof der kleinen Kirche fahren. Pastor Hieu hat 150 besonders kinderreiche Familien herbestellt, um ihnen mit unserer Hilfe jeweils einen Sack voll Reis übergeben zu können. Die Armut dieser Region war im vergangenen Winter extrem angewachsen, als ein Taifun über das Land zog und zahlreiche Hütten zerstörte.

Hier dürfen wir mit Na auch ein weiteres Patenkind begrüßen. Das Mädchen ist mittlerweile 15 Jahre alt und besucht die weiterführende Schule. Immer noch gehört sie zu den besten Schülerinnen. Weil der Vater vor langem gestorben ist und die Mutter durch die Arbeit in der Plantage nicht für das Schulgeld aufkommen kann, wird sie durch eine monatliche Spende von 25 Euro unterstützt. Ärztin oder Lehrerin möchte Na einmal werden, und ihre schulischen Leistungen versprechen, dass dieser Wunsch einmal in Erfüllung gehen kann.

Damit wir diese und ähnliche Familien aus der Vielzahl der Wartenden, die sich in Hue zu einer Herzoperation einfinden, heraussuchen können und damit wir sicher wissen, dass unsere Spenden an der richtigen Stelle ankommen, damit wir weiteren Kontakt halten, um Nachsorge zu veranlassen, haben wir zu Jahresbeginn eine junge Frau eingestellt.

Thuan Hoang hat ein abgeschlossenes Studium der Ernährungswissenschaften und musste bisher als Kellnerin und bei der Post arbeiten. Für unser Projekt hat sie ihre Familie und die Freunde in Saigon verlassen und ist 400 km weit fortgezogen. In Hue hat sie ihren Platz im Krankenhaus gefunden, hält den kontakt zu Ärzten und Schwestern und bemüht sich um die ärmsten Patienten. Bevor sie einer Operation zusagt, schickt sie uns alle Informationen, Papiere und Fotos, damit wir eine Entscheidung treffen können. Außerdem unterstützt sie die Arbeit im Waisenhaus von Kim Doi und bringt einer Gruppe von Kindern das Schreiben, Lesen und Rechnen bei. Ihr monatliches Gehalt ist für unsere Verhältnisse extrem gering, aber in Vietnam kann sie sich den Lebensstandard erhalten, den sie vorher auch hatte.

Ihr neues Zimmer in Hue liegt mitten in der Stadt mit Blick auf den Fluss. Es ist etwa zehn Quadratmeter groß, hat außer dem kleinen Schreibtisch, einem Stuhl und einer Arbeitsplatte in der Kochecke keine weiteren Möbel. Kein Bett, keinen Spiegel, kein Regal. Waschmöglichkeiten teilt sie sich mit drei anderen Bewohnerinnen des Flures. Und doch sagt sie, dass sie ein großes Los gezogen hat, weil sie für uns arbeiten kann: mit großem Engagement, mit Freundlichkeit und Empathie – und immer mit einem Lächeln, das aus dem Herzen kommt.

Vietnam sieht so anders aus als Deutschland. Es hört sich anders an und tatsächlich, es ist auch anders. Anders aber überhaupt nicht mehr fremd.

(Text und Bilder von Hartmut Hoefs)